Frühe Entwicklung des Primo-Levi-Gymnasiums

Die Anfänge des Weißenseer Reform-Realgymnasiums im Kaiserreich[1]

Im Zusammenhang mit der Industrialisierung und den so genannten Gründerjahren veränderte sich Ende des 19. Jahrhunderts auch der kleine Gutsbezirk Weißensee stark: Die Einwohner*innenzahl verzehnfachte sich zwischen 1880 und 1900 und um 1905 betrug sie 35 000. Die einzige zur Verfügung stehende höhere Privat-Knabenschule[2] reichte nicht aus, weder quantitativ noch offensichtlich qualitativ, da sie anscheinend den Ansprüchen der weiterführenden Berliner Schulen nicht gerecht wurde. Auf Druck insbesondere der vermögenden Einwohner*innen und um diese stärker an die Gemeinde zu binden, gründete die Gemeindeverwaltung 1904 eine höhere „Reformanstalt“ lediglich für Jungen.[3] Ungewöhnlich und reformerisch war für damalige Verhältnisse zum Einen die Sprachenfolge: kein Latein, Englisch ab Klasse 5 als erste Fremdsprache und Französisch ab der sechsten Klasse als zweite Fremdsprache. Außerdem wurden auch die naturwissenschaftlichen Bildungsinhalte betont. Der Fächerkanon entsprach also ungefähr unserem heutigen, damals trat lediglich das Fach Schreiben hinzu, während Kunst- und Sport-Unterricht noch ganz fehlten.

Die ersten Jahrgänge wurden in einem Mietshaus in der damaligen König-Chaussee 19, der heutigen Berliner Allee 229, mit insgesamt 106 Schülern[4] unterrichtet. Die Schule arbeitete offenbar sehr erfolgreich, was sich an den wachsenden Schülerzahlen zeigte. 1905 besuchten bereits 134 Schüler die Schule, allesamt aus sozial besser gestellten Familien, Kinder von Apothekern, Kaufleuten, Lehrern, Hausbesitzern, Ingenieuren, wie einer Liste zur Elternversammlung zu entnehmen ist. Darüber hinaus erhielt die Schule 1908 die Erlaubnis[5] der Erweiterung zu einer zehnklassigen Oberrealschule durch das Königliche Provinzial-Schul-Kollegium. Gleichzeitig wurde der Bau eines neuen Hauses in der Woelckpromenade 38 beschlossen, der ausschließlich durch die Gemeinde finanziert wurde. Am 1. April 1910 wurde das neue Schulgebäude[6] in der Woelckpromenade 38 bezogen, feierlich übergeben von Bürgermeister Woelck an den damaligen Direktor Karl Broßmann;[7] die seit 1908 voll ausgebaute Realschule wurde zu einer Doppelanstalt,[8] einem Reform-Realgymnasium und einer Oberrealschule vereinigt. 

Einblicke in das damalige Schulleben geben uns die überlieferten Berichte und Protokolle. Hierbei wurden jedoch zumeist Vorfälle notiert, die Anlass zu Kritik gaben. Neben dem Mathematiklehrer,[9] dem eine ungerechte Bewertung und Behandlung seiner Schüler vorgeworfen wurde, fand der Provinzialschulrat Dr. Wege bei seiner Revision im Jahr 1912 “noch manche Schwächen”.[10] So bat er das versammelte Lehrerkollegium darauf zu achten, dass die Schüler bei ihren Antworten aufstehen. Außerdem sei “der Unsitte des Vorsagens [energisch] entgegenzutreten” und es müsse Wert daraufgelegt werden, daß “die Schüler noch deutlicher, lauter und artikulierter sprechen”. Außerdem betonte der Provinzialschulrat “die Wichtigkeit einer guten Handschrift im späteren Leben.”[11] Auch gegenüber den Lehrkräften fand der Schulrat Anlass für Kritik. Demnach sei es eine “üble Angewohnheit macher [sic!] Herren […], sich auf die Bänke der Schüler zu setzen oder gar mit den Händen in der Hosentasche vor der Klasse zu stehen.”[12] Dennoch bewertete der Provinzialschulrat den Unterricht der meisten Lehrkräfte als gut bis ausreichend.[13]

Ab August 1914 fanden kriegsbedingt nur noch „Notreifeprüfungen“ statt, denn ca. 25% der Lehrerschaft, auch der Direktor, wurden bereits im ersten Kriegsjahr eingezogen bzw. gingen freiwillig zum Militär. Die fehlenden Lehrerstunden fielen entweder aus oder wurden teils durch Mehrarbeit, teils durch Aushilfe von Lehrern anderer Schulen, u.a. dem nahen Mädchen-Lyzeum, kompensiert. Auch die Schülerzahlen reduzierten sich durch Freiwilligenmeldungen  und Einberufungen, bis Ostern 1915 waren bereits 15 von ihnen durch den Frontdienst gestorben. Im Winter 1917 erfolgte die Zusammenlegung[14] mit dem Mädchenlyzeum in der Pistoriusstraße, um Brennmaterial zu sparen; der Unterricht beschränkte sich auf die Hauptfächer und fand ganztägig statt. Das Kaiserreich endete für die Schule mit 73 Toten: 70 Schülern, einem Fünftel der gesamten Schülerschaft, und drei Lehrern.

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Anmerkungen:

[1] Dieser Text basiert auf der Veröffentlichung von Kristin Kirchner. Vgl. Kristin Kirchner, Die Anfänge des Weißenseer Reform-Realgymnasiums im Kaiserreich, in: Primo-Levi-Gymnasium; J. Kausche (Hg.), 100 Jahre Gymnasium Weißensee, Berlin 2010, S. 16. Erweiterungen wurden durch Quellenangaben kenntlich gemacht.

[2] Die höhere Privat-Knabenschule umfasste 6 bis 7 Klassen, von denen die unteren drei Klassen die Vorschule bildeten. Vgl. Undatierte Schulchronik.

[3] Diese bestand aus sechs Klassen drei so genannten Vorschulklassen, jeweils einer Sexta, Quinta und Quarta, im heutigen Sprachgebrauch also eine einzügige Grundschule. Vgl. Kristin Kirchner, Die Anfänge des Weißenseer Reform-Realgymnasiums im Kaiserreich, in: Primo-Levi-Gymnasium; J. Kausche (Hg.), 100 Jahre Gymnasium Weißensee, Berlin 2010, S. 16.

[4] Wie im gesamten Deutschen Reich musste auch hier für den Besuch einer höheren Bildungseinrichtung Schulgeld gezahlt werden: 120,00 Mark jährlich für Einheimische, 140,00 Mark für nicht in Weißensee Wohnende. Vgl. Kristin Kirchner, Die Anfänge des Weißenseer Reform-Realgymnasiums im Kaiserreich, in: Primo-Levi-Gymnasium; J. Kausche (Hg.), 100 Jahre Gymnasium Weißensee, Berlin 2010, S. 16.

[5] Im Antrag des Provinzialschulkollegiums an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten wurde insbesondere auf das Bedürfnis der Bevölkerung Weißensees nach höheren Schulen und der finanziellen Leistungsfähigkeit der aufstrebenden Gemeinde verwiesen. Vgl. Provinzialschulkollegium an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 30.10.1907, in: Bundesarchiv (künftig: BArch), R 4901/5796.

[6] Das Gebäude sollte nach damaligen Planungen Platz für 21 Klassen und 950 Schüler bieten. Vgl. Undatierte Schulchronik.

[7] Dr. Karl Wilhelm Rudolf Broßmann war 1910 vom Gemeindevorstand Weissensee-Berlin gewählt worden. Brossmann wurde am 6.1.1866 in Striegau als Sohn eines Tuchfabrikanten geboren. Nach Besuch des Striegauer Realgymnasiums bestand er 1883 die Reifeprüfung. Anschließend studierte Broßmann an der Universität Breslau und wurde am 6.7.1887 promoviert. Nach den Prüfungen für das höhere Lehramt, 1888 und 1891, war er zunächst in Liegnitz, Landeshut, und Görlitz tätig, bevor er Ostern 1908 an das Realgymnasium in Weissensee berufen wurde. Vgl. Provinzialschulkollegium an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 5.4.1910, in: BArch, R 4901/5796.

[8] Deren war Aufbau 1916 beendet. Nun konnten unterschiedliche Abschlussprüfungen absolviert werden, u.a. die „Wissenschaftliche Befähigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst“. Dies war vermutlich auch der Zeitpunkt, ab dem lediglich Schüler nach der vierten Klasse aufgenommen wurden. Nach dem achten Schuljahr konnten sich die Schüler zwischen der sprachlichen (Realgymnasium) oder naturwissenschaftlichen (Oberrealschule) Betonung ihres Bildungsgangs entscheiden.

[9] Vgl. Provinzialschulkollegium an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 19.10.1911, in: BArch, R 4901/5796.

[10] Abschrift Protokoll Schlußkonferenz vom 11.12.1912, in: BArch, R 4901/5796.

[11] Abschrift Protokoll Schlußkonferenz vom 11.12.1912, in: BArch, R 4901/5796.

[12] Abschrift Protokoll Schlußkonferenz vom 11.12.1912, in: BArch, R 4901/5796.

[13] Bericht des Geheimen Regierungsrat Dr. Wege über Revision der Oberrealschule und Realgymnasium Weißensee, in: BArch, R 4901/5796.

[14] Die Jungen und Mädchen wurden im Wechsel unterrichtet. Die Jungen des Reformgymnasiums nutzten das Gebäude montags, dienstags und mittwochs von 8 Uhr bis 12:15 Uhr und donnerstags, freitags und sonnabends von 12:45 Uhr bis 17 Uhr. Vgl. Undatierte Schulchronik.