Die Zeit der Weimarer Republik: Aufbruch in die Moderne

Die Zeit der Weimarer Republik: Aufbruch in die Moderne[1]

Auch in den revolutionären Wirren der Zeit nach dem Krieg wurde der Schulbetrieb im Großen und Ganzen aufrecht erhalten. Bis 1923 nahmen einige Schüler an der von US-Amerikanern eingerichteten Quäkerspeisung bzw. Versorgung durch das Dänische Hilfskomitee teil, woran man die Not der Nachkriegsjahre ablesen kann.

Die liberalere Grundhaltung der neuen demokratischen Regierung fand auch Niederschlag in der Organisation der Schule, beispielsweise mit der Wahl eines Elternbeirates sowie verschiedener Schülerausschüsse, die eine gewisse Selbstverwaltung übernahmen. Es existierten Arbeitsgemeinschaften (z.B. Buchbinden, Russisch oder ein Schachclub), die Fächer Kunst und Sport wurden eingeführt[2] und mit ihnen Schulsportmannschaften, die an Berliner Wettbewerben teilnahmen. Die Protokolle der Konferenzen verzeichnen eine Orchestervereinigung, eine Gitarren- und Theatergemeinschaft, die für etliche Aufführungen in der Aula sorgten. Außerdem wurden Sommerfeste, manchmal am Oranke- und manchmal am Weißen See, veranstaltet. Die Lehrmittelsammlungen füllten sich nach und nach wieder mit modernen Büchern und Anschauungsmaterialien. Die Zahl der Abiturienten nahm von sechs in den Jahren des Kaiserreichs auf im Schnitt 40 in der Weimarer Zeit zu.

Die neue demokratische Regierung öffnete die Schule nun zunehmend für Kinder aus sozial schwächeren Familien. Das Schulgeld[3] musste zwar noch immer bezahlt werden, aber neu eingeführte soziale Einrichtungen beteiligten sich nun an der Finanzierung gerade bei finanziell schwächer gestellten Familien, um für eine Demokratisierung des Bildungswesens zu sorgen; fast die Hälfte der rund 500 Schüler zahlte kein oder ein verringertes Schulgeld. So konnte auch einigen Schülern z.B. mit Hilfe des Jugendamtes finanzielle Hilfe beim Landschulaufenthalt gewährt werden. Die Stadt stellte Mittel als Wanderbeihilfe zur Verfügung, klassenfahrtähnliche Unternehmungen mit heimatkundlichem Anspruch in der Umgebung Berlins. Es fanden nun aber auch längere Schülerfahrten z.B. ins Riesengebirge oder nach Tirol statt. Politisch gewagt erschien damals vielen der vierzehntägige Aufenthalt gemeinsam mit französischen Schülern in Charleville, angeregt durch einen Französischlehrer, der sich besonders um den Abbau alter Feindbilder bemühte. Der Elternbeirat und ein Schullandheimverein beschäftigten sich zudem mit dem Bau eines Schullandheims.[4]

Die finanziellen Probleme im gesamten Berliner Schulwesen verschärften sich durch die Inflation ab Mitte der 20er Jahre massiv. Immerhin waren noch durch die Abtretung zweier Klassenräume an die Handels- und Berufsschule Ende der 20er Jahre im ersten Stock des Gebäudes in provisorischer Form ein physikalisches Laboratorium und ein Biologieraum eingerichtet worden. Schulmobiliar und –hof blieben jedoch nach wie vor in einem schlechten Zustand; die Raumnot griff um sich, Sammlungen konnten nicht mehr untergebracht werden. Reparaturen im Gebäude wurden auf das Allernötigste beschränkt, das Schulgeld stieg an, Zuschüsse für das soziale Leben in der Schule und für Lehrmittel verringerten sich. Die Sparmaßnahmen machten selbst vor dem Personal der Schule nicht Halt. Am 26. März 1924 erhielt auch der Direktor des Reformrealgymnasiums, Dr. Karl Broßmann, die Nachricht, dass er aufgrund der Preußischen Personal-Abbau-Verordnung zum Mai 1924 in den einstweiligen Ruhestand versetzt würde.[5]

Die politischen Konflikten innerhalb der Gesellschaft spiegelten sich auch in der Schule wieder. Es gab insbesondere Streit zwischen demokratischen und deutschnationalen Vertretern innerhalb der Schulgemeinschaft. Bereits bei der Ernennung des Mitglieds der demokratischen Partei (DDP) Willy Heyn[6] zum Oberstudienrat gab es Probleme innerhalb und außerhalb[7] des Kollegiums. Der Konflikt setzte sich fort, nachdem das Bezirksamt Heyn zum Nachfolger Broßmanns als Direktor des Reformrealgymnasiums wählte. Überliefert ist ein Protestschreiben, vermutlich deutschnationaler Eltern, die die Besetzung Heyns heftig kritisierten. Dabei bemängelten sie die gleichzeitige Tätigkeit Heyns als Bezirksschuldezernent, Vorsitzenden des Bezirksschulausschusses und Direktor der Anstalt. Neben den widerlegten Vorwürfen aus dem Beleidigungsverfahren monierten die Eltern insbesondere die Tatsache, dass Heyn mit seiner demokratischen Fraktion, gemeinsam mit SPD und KPD die Mehrheit stellte.[8] Dem Minister drohten die Eltern schließlich, dass sie im Falle der Bestätigung Heyns die Öffentlichkeit über dessen angebliches Fehlverhalten informieren würden. Allerdings wies das Provinzialschulkollegium[9] die Vorwürfe gegen Heyn zurück und erklärte, dass der Protest “offenbar durch persönliche und politische Gegnerschaft beeinflusst [sei].”[10] Willy Heyn blieb bis zum 23. März 1927 Direktor[11] der Schule. Anschließend trat er sein neues Amt als Magistratsoberschulrat an.[12]

Auch Heyns Vertretung im Amt des Direktors, Oberstudienrat Fritz Hölzel,[13] machte bald Schlagzeilen, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen. Unter dem Titel “Der gerüffelte Gymnasial-Direktor” berichtete die Berliner Morgenpost über einen Vorfall bei der Verfassungsfeier am Reformrealgymnasium am 11. August 1927. Demnach hatte der Festredner, Studienrat Werner, auf das Fehlen “[sittlicher] Ideale” bei “irregeleiteten jungen Menschen” nach dem Krieg hingewiesen. Als Beispiel nannte er die Beteiligung eines Gymnasiasten[14] beim Mord an Walther Rathenau und bezeichnete dieses Ereignis als “einen Schandfleck für die höherer Schule”.[15] Diese Äußerung veranlasste wiederum Hölzel zu einer Gegenrede. Er wies die Bezeichnung des Schandflecks für den Mord an Walther Rathenau energisch zurück. Darüber hinaus erklärte er: “Was die Parteien der Linken unter Freiheit verstehen, ist nicht unser Ideal. Auch Rathenau ist nicht unser Ideal, sondern Hindenburg, der uns Rechtsgerichteten erst zur Freiheit verholfen hat.”[16] Die unverhohlene Parteinahme für die politische Rechte und Bloßstellung Werners wurden auch von weiteren Zeitungen aufgegriffen.[17] Daraufhin versetzte das Provinzialschulkollegium Oberstudienrat[18] Hölzel einen Monat später an die 6. Oberrealschule[19].

Trotz politischer Konflikte innerhalb der Schulgemeinschaft, konnten auch Erfolge verbucht werden. Wie man in Festschriften und Ähnlichem lesen kann, verstanden sich einige Lehrer als fortschrittliche Pädagogen, deren Verhältnis zu Schülern nun stärker durch Gleichberechtigung bestimmt war.[20] Diese progressive Haltung ermöglichte es auch Wladislaus Zeitlin 1925 als erstem Gehörlosen überhaupt das Abitur an einer höheren Schule erfolgreich abzulegen. 1927 erfolgte zudem die Einweihung des neu erbauten Mädchen-Lyzeums[21] in der Pistoriusstraße, benannt nach der Pianistin und Komponistin Clara Schumann (1819 – 1896). Das Gebäude - das heutige Gebäude A - wurde zu Beginn des Schuljahres 1928[22] in Benutzung genommen. Insgesamt lernten in der Weimarer Republik bereits über 800 Schülerinnen[23] und Schüler pro Schuljahr am Reformgymnasium und dem Lyzeum. 1932 waren mit 974 Kindern die höchste Zahl an Schülerinnen und Schüler an den Schulen angemeldet.[24]

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Anmerkungen:

[1] Dieser Text basiert auf der Veröffentlichung von Kristin Kirchner. Vgl. Kristin Kirchner, Die Zeit der Weimarer Republik: Aufbruch in die Moderne, in: Primo-Levi-Gymnasium; J. Kausche (Hg.), 100 Jahre Gymnasium Weißensee, Berlin 2010, S. 17. Erweiterungen wurden durch Quellenangaben kenntlich gemacht.

[2] Diese Fächer wurden unterrichtet in der ebenfalls von Bühring entworfenen und im Krieg zerstörten Gemeindeturnhalle mit angeschlossenem Turnplatz zwischen Pistoriusstraße und Kreuzpfuhl gelegen, in Resten noch als Frei-Zeit-Haus erhalten.

[3] Das Schulgeld war inzwischen auf 150,00 bzw. 187,00 Mark bzw. Ende der 1920er Jahre für alle auf 200,00 Mark jährlich angewachsen.

[4] Trotz des Erwerbs einer Wiese im Riesengebirge konnte der Rohbau nicht mehr bezahlt werden, da der Berliner Magistrat seine Zusage zur Finanzierung aufgrund akuter Geldnöte zurückzog.

[5] Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Dr. Broßmann (u.a.) vom 26.3.1924, in: BArch, R 4901/5796.

[6] Willy Heyn wurde am 4.11.1882 in Arnshagen, Kreis Regenwalde geboren. 1911 bestand er die Lehrbefähigung für Religion, Hebräisch und Deutsch und war sei 1913 Oberlehrer am Reformrealgymnasium. Vgl. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 20.8.1923, in: BArch, R 4901/5796.

[7] So kritisierten die Deutschnationalen in Weißensee den Oberstudienrat und demokratischen Stadtrat Willy Heyn, indem ihr Vertreter im Bezirk, Dr. Quandt, behauptete, dass Heyn seine Ernennung zum Oberstudienrat einer Begünstigung verdankte. Vgl. Beleidigungsklage Stadtrat Heyn - Dr. Quandt, Berliner Nordost Zeitung vom 27.5.1922, in: BArch, R 4901/5796. Das Provinzialschulkollegium sah dies anders und berichtete, dass Dr. Quandt beleidigende Behauptungen vor Gericht zurücknehmen musste. Vgl. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 28.5.1923, in: BArch, R 4901/5796.

[8] Elternbrief an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 29.8.1924, in: BArch, R 4901/5796.

[9] Dennoch schlug die Schulaufsicht vor, eine andere Persönlichkeit mit der Leitung der Schule zu beauftragen, um weitere politische Konflikte zu vermeiden. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 24.11.1924, in: BArch, R 4901/5796. Da auch der Minister Bedenken äußerte, wandte sich das Bezirksamt an das Provinzialschulkollegium und bat Heyn als Direktor zu behalten. Vgl. Bezirksbürgermeister Weissensee an Provinzialschulkollegium vom 29.1.1925, in: BArch, R 4901/5796. Dieses Schreiben scheint Erfolg gehabt zu haben.

[10] Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 24.11.1924, in: BArch, R 4901/5796.

[11] Zum Nachfolger wurde mit Wirkung zum 1. April 1930 Dr. Wilhelm Gedigk gewählt. Vgl. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 4.3.1930, in: BArch, R 4901/5796.

[12] Magistrat Berlin an Provinzialschulkollegium vom 1.4.1927, in: BArch, R 4901/5796.

[13] Fritz Hölzel wurde am 7. Oktober 1879 in Neuruppin geboren. Er legte im September 1907 die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab und erhielt die Lehrbefähigung für Chemie, Mineralogie, Physik, Botanik und Zoologie. Nach seinem Seminajahr an der Luisenstädtischen Oberrealsschule und an der Oberrealschule in Weissensee, arbeitete er seit 1909 als Oberlehrer am Reformrealgymnasium. Im Jahr 1926 wurde er durch das Kollegium zum Oberstudienrat und damit Stellvertreter des Direktors gewählt. Vgl. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 8.6.1926, in: BArch, R 4901/5796.

[14] Es handelte sich hierbei vermutlich um Hans Gerd Techow. Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/100-jahre-politischer-mord-primaten-gegen-republik-100.html

[15] “Der gerüffelte Gymnasial-Direktor”, Berliner Morgenpost vom 18.9.1927, in: BArch, R 4901/5796.

[16] Zitat in: “Der gerüffelte Gymnasial-Direktor”, Berliner Morgenpost vom 18.9.1927, in: BArch, R 4901/5796.

[17] Vgl. “Politik in der Schule. Lehrer-Streit bei einer Verfassungsfeier”, Vossische Zeitung Nr. 442 vom 18.9.1927, in: BArch, R 4901/5796.

[18] Nachfolger wurde am 19. November 1928 Studienrat Dr. Frido Lindemann, der sich in der Abstimmung gegen den Kandidaten des Bezirksamtes, Eckehard Tilsner durchsetzte. Lindemann wurde am 10. September 1880 geboren und bestand die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Leipzig im Jahre 1904 und wurde in Leipzig mit einer Dissertation über “die Operntexte Philippe Quinaults, vom literarischen Standpunkt aus betrachtet” promoviert. Nach einer Tätigkeit an Realschulen in Crimmitschau und Reichenbach, am Landerziehungsheim Laubegast, der Realschule Angermünde und der Mädchenschule in Altenurg war Lindemann von 1909 bis 1916 am benachbarten Lyzeum als Oberlehrer tätig, bevor er an das Reformrealgymnasium wechselte. Vgl. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 2.1.1929, in: BArch, R 4901/5796. Allerdings musste sich auch Frido Lindemann Anfeindungen von Rechten erwehren. So beschwerte sich das deutschnationale Mitglied des Preußischen Landtags, Hans Koennecke, beim Preußischen Kultusministerium und forderte die Ablösung Lindemanns. Als Grund gab er u.a. politische Differenzen zwischen dem SPD-Mitglied Lindemann und dem “im wesentlichen rechts gerichteten Kollegium” an. Vgl. H. Koennecke an Ministerialdirektor Jahnke vom 4.10.1932, in: BArch, R 4901/5796. Lindemann wurde dann tatsächlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1932 an die Königstädtische Oberrealschule in Berlin versetzt. Vgl. Provinzialschulkollegium an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 3.11.1932, in: BArch, R 4901/5796.

[19] “Verdiente Strafversetzung. Der Schulskandal von Weißensee”, Berliner Morgenpost, Nr. 273 vom 13.11.1927, in: BArch, R 4901/5796. Gegen diese Versetzung erhob sich Kritik von den Deutschnationalen, die bemängelten, dass beide - Werner und Hölzel - einen Verweis erhalten hatten, aber nur Hölzel versetzt worden war. Vgl. Meldung Abgeordneter Oelze 275. Sitzung 20,2, Sp. 41 Preußischer Landtag. Hauptausschußverhandlungen, Haushalt 1928, in: BArch, R 4901/5796.

[20] Diese Haltung wurde unterstützt durch eine breitere reformpädagogische Bewegung, der auch der spätere Schulnamensgeber Paul Oestreich angehörte und die sich u.a. in einem stärkeren Einfluss der Schule auf die Freizeit bemerkbar machte.

[21] Vor dem Neubau gab es 1920 bereits das Lyzeum mit Oberlyzeum und Frauenschule sowie Mittelschule in der Parkstraße 15. Dazu gehörte auch eine Zentralvorschule, die Ostern 1922 aufgelöst wurde. Vgl. Verwaltungsberichtsstelle Statistisches Amt der Stadt Berlin (Hg.), Erster Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde Berlin für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. März 1924, Heft 26 Verwaltungsbezirk Weissensee, Berlin 1926, S. 33.

[22] Verwaltungsberichtsstelle Statistisches Amt der Stadt Berlin (Hg.), Verwaltungsbericht der Stadt Berlin 1924-1927 (1. April 1924 bis 31. März 1928), Heft 26 Verwaltungsbezirk Weissensee, Berlin 1930, S. 23.

[23] 1920 waren es 692 Kinder in 28 Klassen, 1921 728 Kinder in 28 Klassen, 1922 788 Kinder in 32 Klassen, 1923 822 Kinder in 32 Klassen, 1924 856 Kinder in 33 Klassen, 1925 839 Kinder in 33 Klassen, 1926 852 Kinder in 34 Klassen und 1927 886 Kinder in 33 Klassen. Vgl. Verwaltungsberichtsstelle Statistisches Amt der Stadt Berlin (Hg.), Erster Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde Berlin für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. März 1924, Heft 26 Verwaltungsbezirk Weissensee, Berlin 1926, S. 31; Verwaltungsberichtsstelle Statistisches Amt der Stadt Berlin (Hg.), Verwaltungsbericht der Stadt Berlin 1924-1927 (1. April 1924 bis 31. März 1928), Heft 26 Verwaltungsbezirk Weissensee, Berlin 1930, S. 22.

[24] Vgl. Der Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Weißensee der Stadt Berlin, Verwaltungsbericht der Bezirksverwaltung Weißensee für die Jahre 1932-1935, Berlin 1936, S. 26.