Die NS-Zeit: Ideologisierung des Schulalltags

Die NS-Zeit: Ideologisierung des Schulalltags[1]

Die nationalsozialistische Diktatur begann für die Schule spätestens mit der Umbenennung ihres Namens. Bereits am 6. Juli 1933 hatte die NSDAP in der Bezirksversammlung die Umbenennung des Reformrealgymnasiums zum “Günther-Roß-Realgymnasium beantragt.[2] Günther Roß, der, 1900 geboren, sich bereits in den 20er Jahren der nationalsozialistischen Bewegung und SA angeschlossen hatte und 1931 dem NS-Lehrerbund[3] beigetreten war, hatte von 1928 bis 1929 dem Realgymnasium als Studienassessor angehört. 1932 wurde Roß bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung[4] zwischen SA-Leuten und Linken in Köslin (Pommern) tödlich verletzt und auf dem Städtischen Gemeindefriedhof in der Schönstraße beigesetzt. Am 15. November 1933 fand die feierliche Umbenennung der Schule in Günther-Roß-Realgymnasium[5] statt, zu der der Eingangsbereich mit Hakenkreuzfahnen geschmückt wurde. Auf den Treppen bildeten Schüler in HJ-Uniform ein Spalier zur Aula. Begleitet wurde das Ganze vom Schulchor mit NS-Kampf- und Weiheliedern. Neben dem Bezirksbürgermeisters Neumann sprach auch der kommissarische Direktor Dr. Robert Seibt, der in seiner Rede schwor, „ganz im Sinne Adolf Hitlers [...] den neuen Raum zwischen dem festen und gegebenen Boden und dem hohen Ideal, dem ewig leuchtenden Ziel, mit menschlich ewigem Leben und Wollen zu erfüllen und den Kosmos  bilden zu helfen, der erst das wahre Glück unseres deutschen Wesens sein könne und werde“.[6] Im Anschluss an die Veranstaltung wurde vor dem Schulgebäude am der Woelckpromenade eine Gedenktafel für Roß enthüllt, die vom NS-Lehrerbund[7] gestiftet worden war.[8] Auch weibliches Lehrpersonal hatten nun Zugang zum Günther-Roß-Realgymnasium, Mädchen wurden jedoch vermutlich erst mit der Zusammenlegung des Lyzeums 1940 dort unterrichtet.

Bei der äußerlichen Umgestaltung der Schule blieb es jedoch nicht. Bereits seit Anfang 1933 beteiligten sich Schüler an der Hitlerjugend. Auch Lehrkräfte traten in die SA ein bzw. wurden Mitglieder des NS-Lehrerbundes. Ab 1936/37 gehörten schließlich mit zunehmendem Druck und diversen Werbeveranstaltungen 95% der Schülerschaft der HJ an. Dass viele Lehrer mit den politischen Veränderungen nach dem Regierungsantritt Hitlers, auf den sie 1934 vereidigt wurden, nicht einverstanden waren und unter der neuen Situation litten, lässt der erhöhte Krankenstand des Jahres 1933 zumindest vermuten. Direktor Gedik, ein Sozialdemokrat, wurde sofort ersetzt, einige Lehrer ließen sich vorzeitig pensionieren, wurden aus dem Schuldienst „entfernt“ oder versetzt[9], andere hingegen erschienen in brauner Uniform zum Unterricht.[10] Die Leitung der Schule erhielt am 29. April 1935 ausgerechnet Fritz Hölzel, der aufgrund seiner Parteinahme für die rechten Parteien und Äußerungen auf der Verfassungsfeier 1927 die Schule hatte verlassen müssen.[11] Da er sich aus Sicht der neuen nationalsozialistischen Machthaber “als aufrechter, national gesinnter Mann erwiesen [hatte]”, sollte er nun den Direktorposten erhalten.[12]

Die Veränderungen machten sich sofort an der Schule bemerkbar: Die Schülerselbstverwaltung war ab 1933 für „Veranstaltungen zu geistiger und körperlicher Hygiene“ sowie den „Verein für das Deutschtum im Ausland“ verantwortlich und organisierte bereits im März 1933 eine „Werbeversammlung“, in deren Verlauf ein Wandbild Hitlers überreicht wurde, das fortan die Aula schmückte. Die offizielle Wiedereinführung der Prügelstrafe wurde gemäß Zeitzeug*innenberichten von einigen Lehrern wieder verstärkt als Disziplinierungsmaßnahme genutzt, Schläge mit dem Rohrstock wie an Grundschulen waren wohl unüblich, mit der Hand ins Gesicht und in den Nacken aber gab es durchaus. Auch ältere Schüler wagten keinerlei Protest oder Gegenwehr. Repressalien von erhöhten Schulgeldforderungen bis hin zu Zwangsversetzungen von Kindern, deren Eltern politisch unbequem, gar verhaftet, oder nicht dem NS-Menschenbild entsprachen, sind für Berlin in großer Zahl belegt und können auch für das Realgymnasium angenommen werden.

Die Biografie der 1932 aufgeführten 21 jüdischen Schüler und unbekannten Zahl jüdischer Lehrer kann nur bruchstückhaft nachvollzogen werden. Am 27. Mai 1933 wurde die Zahl „nichtarischer Schüler“ auf 1,5% beschränkt, dass für das Weißenseer Realgymnasium die Zulassung von sieben jüdischen Schülern bedeutete; im September 1933 verließen bereits zwei jüdische Schüler die Schule, gleichzeitig war die weitere Schulgeldzahlung vom „Ariernachweis“ abhängig[13]. Ebenfalls auf der Sitzung vom Mai 1933 erfolgte die Information über das “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”, womit jüdische Lehrer aus dem staatlichen Schuldienst ausgeschlossen wurden. In das rassistische Bild passt der Vortrag einer Lehrerin über die Erblehre, die berichtete, „dass sich die nationale Regierung im Gegensatz zu übertrieben humanen Einstellungen früherer  Zeiten bei den hochwertigen und gesunden Menschen einsetzt und erbkranken Nachwuchs durch das Sterilisationsgesetz nach Möglichkeit vermeiden will“. Die Vortragende bedauert „den hohen Prozentsatz der Erbkranken“. Die Schüler seien „in die Lehre der Vererbung einzuführen und mit der Erbprognose bekannt zu machen. Es müssen Zeugnisse über die Eignung zur Ehe gefordert werden“, weiterhin seien „Ehen mit Juden“ unbedingt zu „vermeiden“.[14] Weitere konkrete Angaben zu den jüdischen Lehrern, Schülern bzw. ihren Familien fehlen zurzeit noch und sind Gegenstand weiterer Nachforschungen.

Die Förderung sportlicher Aktivitäten und Wettbewerbe zur Vorbereitung der Kriegsteilnahme stand an erster Stelle des rassistisch geprägten nationalsozialistischen Erziehungsideals. Deutlich erkennbar und umgesetzt wurde es durch das Wehrertüchtigungslager für ältere Schüler ab dem Schuljahr 1934/35. Ein Lehrer wurde im Sommer 1933 bereits zum Luftschutzhauswart ausgebildet. Mit Hilfe von Probe-Alarmen war dieser für das straff organisierte Verlassen des Gebäudes und die Unterweisung älterer Schüler, die er als Brand- und Schutzwachen sowie als Begleitung „kleiner Schüler in Führertrupps“ nach Hause einteilte, zuständig. Laut Schulbericht des Jahres 1933/34 erfolgte keine Behebung der diesbezüglich festgestellten baulichen Mängel des Gebäudes und auch der Luftschutzraum im Keller für Schüler, die ihren „Heimatschutzraum nicht rechtzeitig erreichen“ konnten, entsprach neben einem mit Eimern vollgestellten „Stinkraum (= Toilette, alljährlicher Bericht des Direktors an das Bezirksamt von 1933) nicht den Vorschriften. Weitere Lehrer wurden als „Hausfeuerwehr“ und „-sanitäter“ bestimmt.

Der Fächerkanon änderte sich äußerlich nicht, wohl aber die Stundenverteilung zu Gunsten des Sportunterrichts und zum Nachteil der Sprachen, die ab 1939 auch nicht mehr als Abiturprüfungsfächer auftauchten. Den Prüfungsaufgaben jener Zeit sind die Bildungsinhalte zu entnehmen, so fragt die Deutsch-Abituraufgabe des Jahres 1933, wie der „Arbeitsdienst die Volksverbundenheit“ festigen soll, nach dem „Untergang der Kulturvölker vom Standpunkt der Biologie“, 1934 nach der „tieferen Bedeutung des Deutschlandliedes“ oder die Geschichtsaufgabe 1940 „Wie kann die Wiedergewinnung unserer Ostprovinzen zur Stärkung der Selbstversorgung beitragen?“. Insbesondere die so genannten „Gesinnungsfächer“ (Hitler in „Mein Kampf“) wie Deutsch, Geschichte und Biologie dienten der Vermittlung rassistischer und reaktionärer Bildungsinhalte, während die mathematisch-naturwissenschaftlichen einen durchaus modernen Charakter hatten, da hier Lehrstoff vermittelt wurde, der der Industriegesellschaft und vor allem der Vorbereitung eines Kriegs nützlich war. Beispielweise beschäftigte sich der Unterricht im neu eingerichteten Chemie-Labor im Erdgeschoss verstärkt mit Kampfgasen.

Ab 1935 führte die Schule gesonderte Abiturprüfungen für Offiziersanwärter durch. Entsprechend ideologisch gefärbte Lehr- und Lernmittel wurden der Schule relativ schnell zur Verfügung gestellt. Eine Kommission von Lehrern war zuständig für die Eliminierung von „Schriften der Unmoral und Zersetzung“ (Protokoll der Konferenz vom 26. Juni 1934). Das Schulgeld betrug 240,00 Reichsmark (Auswärtige mussten nun 300,00 RM zahlen). Wander- und Klassenfahrten fanden wie Arbeitsgemeinschaften (1936 Eingliederung aller Sport-AGs in die HJ) im gewohnten Umfang weiterhin statt. Gemeinsam wurden Filmvorführungen oder Gedenkfeiern besucht (z.B. „Feurio“, ein Propagandafilm für Brand- und Feuerschutz , Riefenstahls „Olympia“, Kranzniederlegungen, ...); Sommer- (nunmehr „Sonnenwendfeiern“) und Weihnachtsfesten fügte man etliche Feiern hinzu: Erinnerung an die Gründung des Deutschen Zollvereins, Hindenburgs und Hitlers Geburtstag, Hindenburgs Todestag, Heldengedenkfeiern, feierliche Übertragung von Rundfunkreden, Muttertag, Günther Roß’ Geburtstag, Günther Roß’ Todestag, Günther Roß’ Namensgebungsgedenktag, Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, der Tschechoslowakei, Frankreich, ... bis Stalingrad.

Schon im Sommer 1939 wurden viele Lehrer zu militärischen Übungen und nach dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 zum Kriegsdienst einberufen, einige Schüler folgten im Februar 1940. Bereits am 13. September erfolgte die Verlegung des Mädchen-Lyzeums in der Pistoriusstraße, das fortan als Lazarett genutzt wurde, ins Gebäude der Woelckpromenade. Beide Schulen hatten wöchentlich wechselnd Vormittags- und Nachmittagsunterricht. Wie im Ersten Weltkrieg reduzierte die Schule die Stunden bzw. kompensierte einiges mit Vertretungslehrern von anderen Schulen unter Erhöhung der Stundenzahl.

Für Produktionsausfälle wegen der kriegsbedingt mangelnden Arbeitskräfte zog man verstärkt die Schüler zur Erntehilfe oder z.B. zur Kohlenentladung auf dem Güterbahnhof Weißensee heran. Das Sammeln „kriegswichtiger Altstoffe“ entwickelte sich zum öffentlichen Pflichtwettbewerb, besondere Erfolge wurden sogar auf dem Zeugnis vermerkt. Während zweier Monate des Jahres 1940 und in den Wintermonaten der folgenden Jahre fiel die Schule gänzlich wegen Kohlemangels aus, die Schüler wurden ausschließlich mit schriftlichen Hausaufgaben beschäftigt.

Fast wöchentlich verlas Direktor Hölzel seit 1940 in der Aula die Namen der im Krieg getöteten Schüler und Lehrer (Gesamtzahlen sind unbekannt), anschließend wurde das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ gesungen. Wegen der zunehmenden Bombenangriffe erfolgte die Verlagerung beider Schulen nach den großen Ferien 1943. Aufgeschreckt durch den Anblick überfüllter Flüchtlingszüge aus dem Osten, Gräuelgeschichten von Übergriffen sowjetischer Soldaten und Zeitungsberichten vom „siegreichen Rückzug“, entschlossen sich trotz eines offiziellen Verbots viele Schüler*innen ab Anfang 1945 auf gefährlichen und äußerst umständlichen Wegen zu ihren Eltern  nach Berlin zurückzukehren bzw. hatten die Eltern sie nach Hause geholt. An Unterricht war nicht mehr zu denken.

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Anmerkungen:

[1] Dieser Text basiert auf der Veröffentlichung von Kristin Kirchner. Vgl. Kristin Kirchner, Die NS-Zeit: Ideologisierung des Schulallltags in: Primo-Levi-Gymnasium; J. Kausche (Hg.), 100 Jahre Gymnasium Weißensee, Berlin 2010, S. 22-25. Erweiterungen wurden durch Quellenangaben kenntlich gemacht.

[2] Schulabteilung Oberpräsident Brandenburg und Berlin an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 3.8.1933, in: BArch, R 4901/5796.

[3] Während des Nationalsozialismus wurde Roß als “Märtyrer der Kampfzeit” verherrlicht.

[4] Roß hatte sich an einer SA-Propagandafahrt mit seinem “Korpsbruder” und SA-Standartenführer Kurt Kreth beteiligt. Vgl. “Dr. Günther Roß, zu seinem 10. Todestage am 12. Juli 1942”, in: Der Deutsche Erzieher, Reichszeitung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Heft 7, Juli 1942, S. 194-196.

[5] Das Günther-Roß-Realgymnasium wurde in diesem Zusammenhang auch im Reiseführer „Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin“, 1937 herausgegeben von SA-Sturmbannführer Engelbrechten, als „Gedenkstätte des Kampfes um die Reichshauptstadt“ aufgeführt.

[6] Bericht an das Bezirksamt des Schuljahres 1933/34

[7] Der NS-Lehrerbund widmete Günther Roß auch das “Günther-Roß-Gedächtniszimmer” im Haus der Deutschen Erziehung in Bayreuth. Vgl. “Dr. Günther Roß, zu seinem 10. Todestage am 12. Juli 1942”, in: Der Deutsche Erzieher, Reichszeitung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Heft 7, Juli 1942, S. 194-196.

[8] Vgl. “Dr. Günther Roß, zu seinem 10. Todestage am 12. Juli 1942”, in: Der Deutsche Erzieher, Reichszeitung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Heft 7, Juli 1942, S. 194-196.

[9] Dies betraf beispielsweise Eckehard Tilsner, der Mitglied der SPD war. Vgl. Undatierte Schulchronik.

[10] Laut Zeitzeugenberichten gestalteten die meisten ihren Unterricht politisch neutral; der Hitlergruß am Anfang der Stunde war allerdings seit Anfang 1933 per Dekret verbindlich.

[11] Vgl. Undatierte Schulchronik.

[12] Oberpräsident Brandenburg an Reichs- und Preussischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 13.2.1935, in: BArch, R 4901/5796.

[13] Vgl. Protokoll vom 8. September 1933.

[14] Vgl. Protokoll der Konferenz vom 8. September 1933